Das zweite Gesicht der Dinge

Die geistige Kraft der Ornamentlosigkeit beschwor der Wiener Architekt Adolf Loos 1908 und bekräftigte seinen Formpurismus mit dem Satz: „Da das ornament nicht mehr organisch mit unserer kultur zusammenhängt, ist es auch nicht mehr der Ausdruck unserer kultur“. Man kann es auch anders sehen. Das Ornament vermag durchaus Identität zu stiften, wenn es, aus einem anderen Kulturkreis stammend, sich in ein Gesamtkonzept einfügt, das die tradierte Form als ästhetischen Steinbruch einer künstlerischen Selbstfindung nutzt.

Genau das ist der Fall bei den frühen Arbeiten der gebürtigen Iranerin Linda Nadji, die ihren Ursprung in der Ornamentik persischer Textilien und Miniaturen nicht verleugnen können. Doch was sich hier auf den ersten Blick als Bindung an eine in der Erinnerung verankerte Tradition zu erkennen gibt, ist schon Teil einer Umwertung. Es sind teils zarte, teils dicht komponierte gestische Aquarelle, die als Passagenwerk eines künstlerischen Wegs fungieren: Kunst, die fragend „unterwegs“ ist und bei dieser Migration ihre eigene Sprache findet.

Das Transitorische und mit ihm seine experimentelle Funktion bleiben stilprägend. Sie bestimmen auch den Charakter späterer Arbeiten, die formal freier und prozessual geprägt sind. Da gibt es von Stempelbildern ausgehende Wandmalereien, in denen die Kontrastwörter Orient-Okzident sich in einem Kreis, der zu rotieren scheint, unauflöslich überlagern. Eine Außenpartie bleibt offen, die komplette Verschmelzung findet nicht statt. Offen bleibt auch das definitive Erscheinungsbild einer meterlangen schwarzen Stoffbahn, die an schlichte Drahtbügel gehängt ist. Sie lässt sich mit zwei Halterungen von einer Wand zur anderen spannen oder als flaches Wandstück in Endlosschlaufe aufhängen. Material und Grundsubstanz bleiben, aber die Veränderung der Erscheinungsform gibt diesem work in progress einen jeweils anderen Charakter, der sich durch das Versetzen oder Reduzieren der Bügel, durch jeweils andere Straffung, Faltung oder Hängung der Stoffbahn ergibt.

Für die Künstlerin ist diese Verwandlung Teil ihrer Selbsterfahrung: eine Veränderung, die im Kunstwerk selbst angelegt ist, immer wieder neu zu aktivieren, auch einfachstes Material und Vorgefundenes in einen neuen Sinnzusammenhang zu stellen.

Das gilt auch für eine Wandarbeit aus schlichtem Gummiband, in der das elastische Material in einem Kachelmuster übereck gespannt ist. Einige Stränge überlappen sich und streben aus diesem variablen Muster hinaus auf die andere Wand oder auf ein Fenster zu. Hier wird die angeborene Sehnsucht nach Harmonie visuell gestört, aber nicht aufgehoben. Treibende Kraft ist die Raumwahrnehmung, die Initiative, den Blick auf Stellen zu ziehen, die man gemeinhin übersieht: Raumerkundung als sensibler Erfahrungsakt.

Einen besonderen Stellenwert hat die 2008 entstandene Wandinstallation „Wir“, die zwei farbige Häkelarbeiten als Fundstücke - sie haben die Form eines Penis- und eines Busenköchers - so auf Holzscheiben montieren, dass sie wie haptische Projektionen des Männlichen und Weiblichen wirken, plakativ und anrührend zugleich. Man kann das Ganze auch als eine Verschmelzung von gefundener und verarbeiteter Form sehen.

Das Element ist die Intuition, mit der hier Signale gesetzt werden - und die Sensibilität,mit der hier immer wieder fragile Alltagsmaterialien wie Briefumschläge, Pappteller, Transparentpapier zu Arbeiten von dezenter poetischer Kraft zusammengefügt werden. Es sind Akkumulationen, die mit dem Prinzip der Wiederholung arbeiten und dem Material eine neue Sinnsubstanz geben. Treibende Kraft ist der Wunsch, auf ästhetischer Ebene mit dem Material zu kommunizieren, Dinge der eigenen Umwelt umzugestalten, mit einem unbeachteten Industrieprodukt Neues zu schaffen. Das Nutzstück wird so zum Sinnobjekt, das mit zarter Eindringlichkeit den Raum erobert.

Auch in den Farbarbeiten auf Papier geht es immer wieder um Grundstrukturen, deren Wiederholung und Auflösung. Sie zeigt sich in den Collagen aus Fotostreifen, die mit Retuschierfarbe übergangen sind, in den mit Gold- und Silberfarbe komponierten filigranen Zeichnungen, in denen aus einer geometrischen Grundform Strahlenbündel und neue geometrische Formen herauswachsen, in wandfüllenden Acrylzeichnungen, in denen helle Gelbpartikel teils deutlich voneinander getrennt sind, teils ineinander fließen.

Linda Nadji ist eine Gestalterin, die Sinn und Sinnlichkeit des Objekts, des Bilds, der Installation zusammenführt. Das führt uns immer wieder auf jene Arbeiten zurück, die sich mit der eigenen Herkunft auseinandersetzen. Kernstücke sind Keramiken in Form gefalteter Textilien.Sie erinnern an geschlossene Gebetsteppiche, an Hamamtücher, erscheinen uns aber auch als Relikte gelebten Lebens, die gleichsam gefroren sind - ein paradoxer Akt, denn der Brennvorgang des Materials steigert in dem Maße, in dem er sich von der ursprünglichen Funktion der Textilien distanziert, deren schon fast versteinerten sakralen Charakter. Das Gestische der Anfangsjahre ist mit solchen skulpturalen Objekten ganz überwunden. Aber der Impuls ist der gleiche: der Künstlerin geht es um die Stimulation einer inneren Schule des Sehens, um Verwandlung des Materials, um Spurensuche, die neue Türen aufstößt.