MEMORY I, 2020 „One needs to stop looking at the photograph and instead start watching it.“1 Augenblicklich beginnt sich die Hochzeitsgesellschaft auf den Fotografien zu bewegen: freudiges Lachen ertönt, enthusiastisch klatschende Hände schwirren umher, Freilebigkeit zeigt sich in sexuell anmutenden Gesten. Die Betrachter*in selbst, steht mittendrin, wird für eine Sekunde Teil der Ausgelassenheit, des Optimismus, des Aufbruchs - all dies vor dem Hintergrund des demonstrativ in die Höhe gehaltenen Blumenstraußes! Die Euphorie dieser Situation eingebettet in die Weichheit der Kissen lassen das baldige böse Erwachen als einen entfernt geglaubten Alptraum imaginieren. Und dennoch ist die Brutalität der Islamisierung Irans um 1979 real. Zwar weiß die abgebildete Hochzeitsgesellschaft nichts von den bevorstehenden Ereignissen, aber wir, als die außenstehenden Betrachter*innen, wissen aus heutiger Perspektive, dass der romantische Filmausschnitt auf den Kissen noch lange nicht das Ende der Geschichte ist. Die Fotografien auf den 100 Kissen stammen aus dem Archiv des ehemaligen Familienbetriebs Foto Studio Nadji Teheran, das von dem Vater des Geschwisterpaars Linda und Reza Nadji in den 1950er Jahren gegründet wurde. Der Fotograf Reza Nadji hat die vor der Islamisierung entstandenen Hochzeitsfotografien gesichtet und in einem aufwendigen Verfahren digitalisiert, um sie anschließend in Zusammenarbeit mit seiner Schwester und Konzeptkünstlerin Linda Nadji in ein künstlerisches Display zu überführen. Neben der Tatsache, dass diese Fotografien ein besonderes Relikt aus einer überschriebenen Zeit sind, bietet das Genre der Familienfotografie ein hohes Identifikationspotenzial, unabhängig dessen, wie stark die Nähe zur iranischen Kultur konkret sein mag. Die Wissenschaftlerin Patricia Holland stellt in ihrem Beitrag zum Thema Familienschnappschüsse fest, dass Familienfotografie nicht den Anspruch hätte, von allen verstanden zu werden: „It is a private medium, its simple imagery enriched by the meanings we bring to it. An ‚outside‘ interpretation, an assessment of someone else’s album, moves into a different realm: of social history, ethnology or a history of photography.“2 Somit eröffnet sich mit jedem weiteren Blick auf das Werk eine neue Erzählperspektive, grenzenlos vor dem Hintergrund der Kontextreise, welche die Angespornt von einem kostbaren familiären Erbe, bewusst über die Verantwortung dieses Fundstücks, haben die Geschwister Nadji einen Weg gefunden ihr persönliche Geschichte in eine künstlerische Erlebnismöglichkeit zu überführen und so für die Öffentlichkeit erfahrbar zu machen. Im Vordergrund stehen dabei die partizipativen Momenten, welche dem*der Betrachter*in eine emotionale Auseinandersetzung mit der Thematik des Werkes ermöglichen und so einen Ansatz bieten die westlichen Empathielücken für das iranische Traumata zu füllen. Inwieweit diese Lücken geschlossen werden wollen, ist jede*r Betrachter*in selbst überlassen. Manuela Mehrwald